Beweglichkeit neu gedacht – Kraft statt passiver Dehnung?
- Tony
- 27. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Dehnen gehört seit Jahrzehnten zum Trainingsalltag. Doch moderne Biomechanik und Neurowissenschaft zeigen: Klassisches Stretching wird oft überschätzt – besonders wenn es isoliert und passiv angewendet wird.
Was wir wirklich brauchen ist aktive Beweglichkeit, neuromuskuläre Kontrolle und Strukturtraining unter Last – vor allem exzentrisch.

Warum klassisches Dehnen biomechanisch limitiert ist
Kein echter Längenzuwachs
Passives Dehnen verändert meist nicht die Muskelstruktur, sondern nur die Toleranz für Dehnung. Der Körper „erlaubt“ mehr Bewegung, weil er sich daran gewöhnt – aber die Muskelfasern selbst bleiben gleich lang. Statisches Dehnen wirkt primär auf
den Dehnungstoleranzschwellenwert, nicht auf tatsächliche Längenänderung, Mechanorezeptoren (z. B. Golgi-Sehnenorgane), nicht auf die Fasern selbst.
Studien zeigen die erhöhte Beweglichkeit nach Dehnen ist fast ausschließlich auf neurologische Anpassung zurückzuführen – nicht auf strukturelle Muskelverlängerung.
„Stretching increases tolerance, not tissue length“ – Weppler & Magnusson (2010)

Keine aktive Kontrolle
Wer passiv dehnt, gewinnt kurzfristig Bewegungsfreiraum – aber keine Stabilität. Die Kontrolle in endgradigen Positionen fehlt. Besonders bei Beschwerden, z. B. in der LWS oder Hüfte, kann das sogar zu mehr Instabilität führen. Klinisch gesehen:
passive Mobilität ↑
aktive Mobilität ↔ oder ↓
Stabilität im Gelenkkomplex → gefährdet
Das erklärt u. a., warum viele Patient:innen mit Rücken-, Hüft- oder Knieschmerzen ständig dehnen ohne langfristige Besserung. Die Mobilität bleibt passiv.
Spannung ist nicht gleich Verkürzung
In der Praxis wird das Gefühl von Spannung oder eingeschränkter Beweglichkeit oft als „Verkürzung“ interpretiert. Ein Muskel, der sich „verkürzt“ anfühlt, ist oft:
tonisch hyperaktiv (z. B. durch Haltung, Stress, Dysbalance)
nicht willkürlich entspannbar (fehlende neurologische Steuerung)
Die Antwort: Dehnen. Täglich, passiv, manchmal über Jahre. Doch moderne evidenzbasierte Trainings- und Therapiekonzepte zeigen, was sich wie Verkürzung anfühlt, ist in Wahrheit häufig Schutzspannung, haltungsbedingte Überaktivität, neurologische Kompensation (z. B. durch Stress oder Atemmuster).
Beispiel:
Ein Hüftbeuger, der sich „verkürzt“ anfühlt, ist häufig das Resultat von:
mangelnder Atemmechanik (z. B. Zwerchfellhochstand)
unzureichender Aktivierung des Antagonisten (z. B. Gluteus max.)
chronischer Kompensation im Gangbild oder Sitzen
Ein unausgeglichener Muskel braucht keine Dehnung sondern
neurologische Umlenkung (Atmung, Core-Aktivierung), aktive Ansteuerung des Gegenspielers, Bewegung im Kontext.
Die Lösung liegt also nicht im „Ziehen“, sondern in funktioneller Atmung, Haltungsintegration, Gegenspieleraktivierung.
Warum exzentrisches Krafttraining besser wirkt
Exzentrisches Training bringt Muskeln unter Last in Länge – und genau hier entstehen neuronale Akzeptanz der neuen Weite, strukturelle Veränderungen (z. B. mehr Sarkomere in Reihe), Bewegungskontrolle. Das führt zu echter, funktioneller Mobilität – mit Kraft und Stabilität im gesamten Bewegungsbereich.
1. Aktive Kontrolle in Endposition
Exzentrische Übungen führen Muskeln unter Last in Länge und erzeugen dabei:
neuronale Akzeptanz des Bewegungsbereichs
Strukturveränderungen auf Faser- & Sehnenebene
Koordination und Gelenkstabilität
Beispielhafte Mechanismen:
Zunahme der Sarkomere in Serie (Lynn & Morgan, 1994)
Steigerung der Sehnensteifigkeit
Verbesserung der intramuskulären Kontrolle
2. Verletzungsprävention
Insbesondere bei Tendinopathien, muskulären Dysbalancen oder Schmerzsyndromen zeigt sich:
exzentrisches Training reduziert Rückfallquoten (z. B. bei Hamstringverletzungen)
es verbessert langfristig Bewegungsökonomie und Gelenkstabilität
3. Funktion schlägt Passivität
Ein Muskel, der gelernt hat, in Dehnposition Kraft zu erzeugen, ist resistenter gegenüber Verletzungen, funktional beweglich und neurologisch akzeptiert.
Wann Dehnen dennoch sinnvoll sein kann
Um fair zu bleiben: Statisches oder aktives Dehnen ist nicht grundsätzlich schlecht. In bestimmten Kontexten kann es therapeutisch sinnvoll sein:
1. Neuroregulation
Z.B. zur Tonusreduktion, nach Stress oder zur Einleitung einer parasympathischen Aktivität (Atmung + Stretching)
2. Schmerzmodulation
Kurze Dehnreize aktivieren Mechanorezeptoren und können den Schmerz beeinflussen, etwa bei myofaszialen Spannungen
3. Körperwahrnehmung & Konzentration
Im Yoga, Tanz oder Reha hat Dehnen eine Rolle in der Sensorikschulung und Förderung der Bewegungskompetenz
4. Sportartspezifische Anforderungen
Für Athleten mit extremen Bewegungsanforderungen (z. B. Ballett, Kampfsport) kann passives Dehnen Teil eines aktiven Mobilitätskonzepts sein
Resümee
Dehnen kann helfen – aber es ist nicht das Mittel der Wahl, wenn es um nachhaltige Mobilität geht. Die Basis bleibt: Kraft in Länge. Exzentrische Kontrolle. Neurologisch intelligente Bewegung.
Conor Harris: “Stretching addresses symptoms, not strategy.”
Quellen:
Weppler & Magnusson (2010). Increasing muscle extensibility: a matter of increasing tolerance or modifying the muscle tissue?
Konrad et al. (2021). Effects of Stretching on Physical Performance: A Meta-Analysis.
Lynn R, Morgan DL. (1994). Decline running produces more sarcomeres in rat vastus intermedius muscle fibers than does incline running.
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